Raus aus der Opferrolle
Alles zur Betreutes Fühlen-Folge
Wir alle kennen Menschen, die immer das Opfer sind. Eine neue Studie zeigt: das liegt in der Persönlichkeit. Doch auch die Gesellschaft spielt eine Rolle. Haben wir eine Opferkultur in der sich immer mehr unterdrückt, falsch verstanden, schlecht behandelt fühlen? Wir klären, was man tun kann, um die Opferrolle zu verlassen. Denn wenn das Schicksal wirklich zuschlägt, lohnt es sich das Heft des Handelns in der Hand zu behalten.
Leben wir in einer Opferkultur?
»Immer mehr Menschen sehen sich selbst als Opfer oder identifizieren sich mit welchen«, schreibt Anselm Neft in seinem Zeit-Artikel. Er macht das Scheitern an den eigenen Ansprüchen, unserem hohen Grad an Zivilisation und unserem Wunsch nach einer gewaltfreien Gesellschaft dafür verantwortlich. Mehrfach zitiert er in seinem Artikel den deutschen Literatur- und Sozialwissenschaftler Jan Philipp Reemtsma und dessen Buch Vertrauen und Gewalt.
Interpersonal Tendency to Victimhood – ein Maß für die Opferrolle
Das gesellschaftliche Leben ist voller Zweideutigkeiten. Dein Date antwortet nicht mehr auf die Textnachricht, deine Freundin lächelt dich nicht immer an, wenn Du sie anlächelst und Fremde haben manchmal einen verärgerten Gesichtsausdruck. Während die meisten Menschen dazu neigen, sozial zweideutige Situationen mit relativer Leichtigkeit zu meistern, sehen sich manche Menschen als ständige Opfer. Rahav Gabay von der Universität Tel Aviv und ihr Team definieren dies als Tendenz zur zwischenmenschlichen Opferrolle (Interpersonal Tendency to Victimhood – TIV). [1] Sie sagen es sei, ein andauerndes Gefühl, dass man selbst das Opfer ist und diese Tendenz weitet sich auf viele Arten von Beziehungen aus. Infolgedessen wird diese Viktimisierung zu einem zentralen Bestandteil der Identität.
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Dimensionen der Tendenz zur Opferrolle
Ausgehend von klinischen Beobachtungen und Forschungsergebnissen stellten Gabay und ihre Kolleg:innen fest, dass die Tendenz zur zwischenmenschlichen Opferrolle aus vier Hauptdimensionen besteht:
1. ständiges Streben nach Anerkennung der eigenen Opferrolle
2. moralischer Elitismus (moralische Überlegenheit gegenüber allen anderen)
3. mangelndes Einfühlungsvermögen in den Schmerz und das Leiden anderer
4. häufiges Grübeln über vergangene Viktimisierung.
Wichtig: Eine hohe TIV kann entstehen, ohne dass man ein schweres Trauma oder eine Viktimisierung erlebt hat. Umgekehrt bedeutet das Erleben eines schweren Traumas oder einer Viktimisierung nicht unbedingt, dass jemand eine Opferhaltung entwickeln wird.
Folgen einer hohen Tendenz zur Opferrolle
Gabay und ihre Kolleg:innen haben drei wesentliche kognitive Verzerrungen identifiziert, die TIV kennzeichnen: Interpretations-, Attributions- und Erinnerungsverzerrungen. [2] Menschen mit einer hohen Tendenz zur Opferrolle interpretieren Kränkungen als schwerwiegender, schreiben anderen schlechtere Absichten zu und erinnern negative Erinnerungen leicht.
Wie entsteht ein Hang zur Opferrolle?
Eine hohe Tendenz zur Opferrolle wird erlernt. Auf individueller Ebene spielen sicherlich viele verschiedene Faktoren eine Rolle, darunter auch reale Opfererfahrungen in der eigenen Vergangenheit. Die Forscher:innen rund um Gabay fanden jedoch heraus, dass ein ängstlicher Bindungsstil eine besonders starke Vorstufe für die Tendenz zur zwischenmenschlichen Opferrolle darstellt.
Menschen mit ängstlichem Bindungsstil neigen dazu, von der Anerkennung und ständigen Bestätigung durch andere abhängig zu sein. [3]
Fördern Triggerwarnungen die Opferrolle?
Psychologieforscher:innen haben begonnen zu untersuchen, ob Triggerwarnungen tatsächlich von Vorteil sind. [4] Die Ergebnisse von rund einem Dutzend psychologischer Studien, die zwischen 2018 und 2021 veröffentlicht wurden, sind bemerkenswert konsistent und weichen von der gängigen Meinung ab: Sie zeigen, dass Triggerwarnungen die negativen Reaktionen auf beunruhigendes Material bei Schüler:innen, Traumaüberlebenden oder Menschen mit der Diagnose einer Posttraumatischen Belastungsstörung nicht zu verringern scheinen.
Die Entführung von Nathalie Birli
Die österreichische Profi-Radfahrerin Nathalie Birli war am Abend des 23. Juli 2019 mit dem Fahrrad in der Nähe von Graz unterwegs, als sie ein Mann mit dem Auto anfuhr und anschließend zusammenschlug. Dann entführte er die junge Frau und brachte sie zu sich nach Hause, wo er sie weiter misshandelte und sogar zu töten versuchte. Nur mit Mühe gelang es Nathalie, ihn davon zu überzeugen, sie gehen zu lassen. Kurz darauf wurde der Mann verhaftet. Sie überlebt diese Hölle in dem sie versucht, sich in ihren Entführer hineinzuversetzen. Dadurch lässt ihr Hass nach. Langsam fängt sie an zu verstehen: Für diesen Mann ist die Entführung ein Mittel gegen seine immense Einsamkeit. Und aus diesem Verständnis heraus entsteht Empathie, statt dass sie in einer Opferrolle gefangen bleibt.
Das ABCDE-Modell nach Albert Ellis
Ein Weg aus der Opferrolle zeigt das ABCDE-Modell des amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten Albert Ellis. Das Modell nimmt an, dass unsere Wahrnehmung von Situationen durch Bewertungen begleitet wird und geht durch unterschiedliche Stufen. Eine kurze Erklärung des Modells gibt die TU-Dortmund.
Wer sich genauer mit dem Modell auseinandersetzen möchte, findet im Klub von WeMynd eine Session mit Leon zu »Sich selbst mögen.« Noch keinen Zugang? Dann werde Teil vom Klub.
[1] Gabay, R., Hameiri, B., Rubel-Lifschitz, T., & Nadler, A. (2020). The tendency for interpersonal victimhood: The personality construct and its consequences. Personality and Individual Differences, 165, 110134.
[2] Kaufman, S. B. (2020). Unraveling the Mindset of Victimhood. Scientific America.
[3] Macnamara, M. (2021). Why People Feel Like Victims. Nautilus.
[4] Gersen, J. S. (2021). What if Trigger Warnings Don’t Work? The New Yorker.