Was wir bereuen
Alles zur Betreutes Fühlen-Folge
Jeden Tag treffen wir Entscheidungen. Damit machen wir einer recht unbeliebten Emotion die Tür auf – Reue.
Wenn wir etwas bereuen, können wir in einer bestimmten Art des Denkens feststecken. Hätte ich mich anders entscheiden sollen? Wo wäre ich, hätte ich damals den anderen Weg gewählt? Was wäre wenn? Um da rauszukommen, brauchen wir einen neuen Blick auf dieses Gefühl, Tipps aus der Psychologie und die niederländische Lotterie.
Was ist Reue?
Reue ist eine Emotion, die auf Entscheidungen und Vergleichen basiert. Reue wird als eine »auf Vergleich beruhende Emotion der Selbstbeschuldigung beschrieben, die auftritt, wenn Menschen erkennen oder sich vorstellen, dass ihre gegenwärtige Situation besser gewesen wäre, wenn sie in der Vergangenheit anders entschieden hätten.« Einfach ausgedrückt: Reue wird ausgelöst, wenn ein/e Akteur:in erfährt, dass das Ergebnis einer Entscheidung schlechter ist als das, was er/sie erreicht hätte, wenn er/sie anders entschieden hätte. [1]
Es wird häufig behauptet, dass die Funktion des Bereuens darin besteht, Menschen zu helfen, aus ihren Fehlern zu lernen. Das heißt, bereuen soll erkennen und umsetzen von Verhaltensweisen erleichtern, die verhindern, dass man denselben Fehler noch einmal macht. [2] Wir wollen Reue möglichst verhindern (»Regret Aversion«). [3]
Reue überkommt uns meist, wenn wir über vergangene Entscheidungen nachdenken. Es ist sozusagen eine retrospektive Emotion. [4] Allerdings können wir uns bei aktuellen Entscheidungen Gedanken machen, ob wir diese in Zukunft bereuen könnten, sog. »Regret Anticipation«. Dass man diese wiederum ausnutzen kann zeigt die niederländische Postcode Lotterie. [3]
Reue erleben wir erst ab dem Schulalter (ca. 5-7 Jahren), sie prägt sich mit zunehmendem Alter weiter aus. [6]
Untersuchungen haben ergeben, dass wir Reue häufig empfinden und diese Emotion schätzen, auch wenn sie sich nicht gut anfühlt. [5] Wir bereuen eine ganze Reihe unterschiedlicher Dinge. Einen spannenden (aber nicht repräsentativen) Einblick in das Bereuen der Menschen weltweit gibt uns der World Regret Survey.
Der Bestsellerautor Daniel Pink hat für die Recherche zu seinem Buch »Die Kraft der Reue« diese Online-Plattform angelegt. Dort fragt er Menschen, was sie bereuen. Bislang haben mehr als 19.000 Menschen aus 105 Ländern einen Beitrag geleistet. Eine interaktive Weltkarte zeigt, was die Leute bereuen.
Reue durch Handeln vs. Nicht-Handeln
Es gibt grundsätzlich zwei Möglichkeiten, Dinge zu bereuen: Die eine wird von der Forschung als der Weg des Handelns bezeichnet (»Regrets of Action«), die andere als der Weg des Nicht-Handelns (»Regrets of Inaction«).
Das heißt, wir können Dinge bereuen, die wir getan haben – oder eben solche, die wir nicht getan haben. [7]
Obwohl beide Arten der Reue häufig vorkommen, ist inzwischen gut dokumentiert, dass Menschen am häufigsten Dinge bereuen, die sie nicht getan haben, gerne getan hätten und nicht Dinge, die sie nicht getan haben. [8]
Kontrafaktisches Denken – der Mechanismus hinter Reue
Daniel Pink schreibt in seinem Buch »Die Kraft der Reue« wir sind zeitreisende Geschichtenerzähler:innen.
Unser Gehirn verfügt über die einzigartige Fähigkeit, die Vergangenheit Revue passieren zu lassen und alternative Erzählungen zu erfinden – fiktive Handlungsstränge, die nie wirklich existierten. Dieser Prozess wird kontrafaktisches Denken (»Counterfactual Thinking«) genannt. [9] Um Reue empfinden zu können, müssen wir uns vorstellen, was gewesen wäre, hätten wir uns anders entschieden. Eine spezielle Gehirnstruktur in unserem Kopf ermöglicht uns kontrafaktisches Denken: Der orbitofrontale Kortex. [10]
Das kontrafaktische Denken ist sehr hilfreich. Gerade für das Vorhersehen von Reue durch bestimmte Entscheidungen. Allerdings ist es auch fehleranfällig wie eine Studienreihe aus 2022 zeigte. [11]
Tipps für den Umgang mit Reue
Reue ist eine Emotion mit zwei Seiten. Je nachdem, wie wir sie für uns nutzen, ist sie hilfreich oder schadet uns.
Reue kann unseren Stress erhöhen, die körperliche Gesundheit beeinträchtigen und das Gleichgewicht des Hormon- und Immunsystems stören. Frühere Arbeiten haben auch gezeigt, dass Menschen die Reue empfinden, oft eine geringere Lebenszufriedenheit haben. [5] Daraus könnte man schließen: Reue ist nicht nur unangenehm. Sie ist auch ungesund. [12]
Doch so schmerzhaft und lähmend sie auch sein mag, kann Reue auch zu korrigierenden Maßnahmen motivieren. Insbesondere wenn Reue nach Ergebnissen auftritt, die noch Möglichkeiten zur Verbesserung bieten, kann die Erfahrung des Bereuens den emotionalen Schmerz durchaus wert sein. [13]
Reue will dir nichts Böses
Solange wir ein funktionierendes Gedächtnis haben, können wir Reue nicht völlig ausschalten.
Reue versucht nicht, dich in der Vergangenheit gefangen zu halten. Sie versucht, dich in eine bessere Zukunft zu führen. Anstatt also ständig zu versuchen, Reue zu beseitigen oder ihr zu entkommen, versuch zu akzeptieren, dass du von Zeit zu Zeit mal etwas bereuen wirst.
3 Schritte im Umgang mit Reue nach Daniel Pink
Mit den richtigen Schritten können wir Reue in einen positiven Katalysator verwandeln. Daniel Pink schlägt folgende vor:
Der erste Schritt ist »rückgängig machen, wenn möglich«.
Der zweite Schritt ist, an schlechte Erfahrungen ein »wenigstens« zu hängen. Vielleicht bereust du, dass du Medizin studiert hast, aber wenigstens hast du dort deine/n Ehepartner:in kennengelernt. Das wäre ein großes »wenigstens«!
Schließlich der dritte Schritt: Analysieren und strategisch vorgehen. Dies ist wohl der wichtigste Schritt von allen. Hier solltest du dich fragen: Welche Lehren kann ich aus meiner Reue ziehen? Das Erkennen schlechter Entscheidungen treibt uns zu einer zielgerichteteren, produktiveren Zukunft. [14]
Zeige deine Reue gegenüber anderen
Noch ein Tipp von Daniel Pink: Wir scheuen uns oft, anderen negative Informationen über uns selbst mitzuteilen. In der Literatur wird jedoch immer wieder darauf hingewiesen, dass die Offenlegung unserer Gedanken, Gefühle und Handlungen, indem wir sie anderen mitteilen eine Reihe von körperlichen, geistigen und beruflichen Vorteilen mit sich bringt.
Die Offenlegung von Reue nimmt uns Last ab, indem wir die negative Emotion in konkrete Worte fassen, wird die Bedrohung weniger bedrohlich und wir können beginnen, dem Geschehenen einen Sinn zu geben. [9]
Ein bisschen mehr Realismus
Wie kommen wir aus dem Gefühl der Reue raus? Frank Luerweg schreibt in einem Spektrum-Artikel, dass mehr Realismus wichtig ist. [15]
Wir überschätzen oft die Alternative, die wir nicht gewählt haben und malen diese in den schönsten Farben. Trifft das realistisch zu? Gleichzeitig übersehen wir die positiven Folgen, die unsere gewählte Alternative mit sich bringt.
Vor der Entscheidung
Wenn wir uns vor einer Entscheidung gründlich überlegen, warum wir diese Entscheidung treffen, kann das dem Reuegefühl vorweggreifen. Eine gute Begründung macht weniger reumütig. [15] Gleichzeitig kann es helfen, eine »Exit-Strategie« zu haben, einen Plan B, wenn sich die gewählte Alternative doch als die schlechtere herausstellt.
Weitere Tipps im Umgang mit Reue gibt der amerikanische Psychotherapeut Nick Wignall. [16] Er deutet darauf hin, wie wichtig es ist Selbstmitleid zu vermeiden, sich selbst zu vergeben und ein »ich sollte« in ein »ich will« umzuwandeln.
[1] Baskin-Sommers, A., Stuppy-Sullivan, A. M., & Buckholtz, J. W. (2016). Psychopathic individuals exhibit but do not avoid regret during counterfactual decision making. Proceedings of the National Academy of Sciences, 113(50), 14438-14443.
[2] Beike, D. R.; Markman, K. D.; Karadogan, F. (2008). What We Regret Most Are Lost Opportunities: A Theory of Regret Intensity. Personality and Social Psychology Bulletin, 35(3), 385–397.
[3] Zeelenberg, M., & Pieters, R. (2004). Consequences of regret aversion in real life: The case of the Dutch postcode lottery. Organizational Behavior and Human Decision Processes, 93, 155-168.
[4] Klumbies, H. Die Reue konfrontiert einen Menschen mit seiner Selbstverantwortung. Wissen57.
[5] Sijtsema, J. J., Zeelenberg, M., & Lindenberg, S. M. (2021). Regret, self-regulatory abilities, and well-being: their intricate relationships. Journal of Happiness Studies, 1-26.
[6] Van Duijvenvoorde, Anna C. K.; Huizenga, Hilde M.; Jansen, Brenda R. J. (2014). What is and what could have been: Experiencing regret and relief across childhood. Cognition and Emotion, 28(5), 926–935.
[7] Penberthy, J. K. (2022). What science tells us about how to overcome regret. World Economic Forum.
[8] Davidai, S., & Gilovich, T. (2018). The ideal road not taken: The self-discrepancies involved in people’s most enduring regrets. Emotion, 18(3), 439.
[9] Pink, D. (2022). Die Kraft der Reue: Wie der Blick zurück uns hilft, nach vorne zu schauen. Allegria.
[10] Camille, N., Coricelli, G., Sallet, J., Pradat-Diehl, P., Duhamel, J. R., & Sirigu, A. (2004). The involvement of the orbitofrontal cortex in the experience of regret. Science, 304(5674), 1167-1170.
Yu, P., Lu, X., Chen, Y., Ye, H., Zeng, L., & Guo, W. (2021). Modulating OFC activity with tDCS alters regret about human decision-making. Frontiers in Psychology, 12, 706962.
[11] Feiler, D., & Müller-Trede, J. (2022). The One That Got Away: Overestimation of Forgone Alternatives as a Hidden Source of Regret. Psychological Science, 33(2), 314-324.
[12] I. Bauer, C. Wrosch. Making Up for Lost Opportunities: The Protective Role of Downward Social Comparisons for Coping With Regrets Across Adulthood. Personality and Social Psychology Bulletin, 2011; 37 (2): 215
[13] Beike, D. R.; Markman, K. D.; Karadogan, F. (2008). What We Regret Most Are Lost Opportunities: A Theory of Regret Intensity. Personality and Social Psychology Bulletin, 35(3), 385–397.
[14] Pink, D. (2022). Die Kraft der Reue: Wie der Blick zurück uns hilft, nach vorne zu schauen. Allegria.
Book Summary: The Power of Regret – How Looking Backward Moves Us Forward. (2022). Paminy.
[15] Luerweg, F. (2022). Was wäre, wenn? Spektrum.
[16] Wignall, N. (2022). How to Deal with Regrets in a Healthy Way. Nickwignall.com.