Keine zweite Chance
Alles zur Betreutes Fühlen-Folge
Menschen machen Fehler. Manche dieser Fehler scheinen unverzeihlich. Andere wiederum können wir vergeben. Wann bekommen Menschen eine zweite Chance und wann nicht? Gerade auf Social Media mit Shitstorm, Cancel Culture und Co. ist diese Frage relevant. Aber auch auf der kleinen Bühne, wenn wir Opfer von Fehltritten werden. In dieser Folge geht es um Fynn Kliemann, Fremdgehen und die Psychologie der zweiten Chance.
Wonach beurteilen wir das Ausmaß von Fehltritten und ob wir Menschen vergeben?
Wir ziehen viele Faktoren bei unserer Urteilsbildung mit ein wenn wir Menschen verzeihen. Neben Alter, Absicht, Persönlichkeit, Schwere des Fehltritts, die vergangene Zeit seit des Fehlers, spielt offenbar auch das Land, in dem wir Leben, eine Rolle. [1]
Außerdem fallen soziale Aspekte ins Gewicht: Kennen wir die Person? Je näher wir einem Menschen stehen, desto weniger harsch verurteilen wir diese Person. Fühlen uns für einen eigenen Fehltritt allerdings umso schlechter. [2]
Einen krassen Einfluss darauf, ob wir Menschen eine zweite Chance geben, hat, wie weit sie gegen unsere Wertevorstellungen und Moral gehandelt haben. [3]
Nicht zuletzt spielt noch ein Faktor eine Rolle, der besonders online deutlich wird: Was denken die Anderen? Verurteilen sie den Fehler einer Person, tun wir das tendenziell auch. Allerdings je härter die Kritik, desto mehr Empathie für den/die Verurteilte:n empfinden wir. [4]
Uns fehlen klare Regeln, wem wir eine zweite Chance geben und wem nicht
Trotz all dieser Punkte, die unser Urteil und unser Potenzial für Vergebung beeinflussen, wir haben kein Protokoll, wie wir mit Menschen umgehen, die sich Fehltritte erlaubt haben. Schön zusammengefasst hat das die Atlantic-Autorin Elizabeth Bruenig in einem Tweet von 2021 (übersetzt): »Als Gesellschaft haben wir absolut keine kohärente Geschichte - überhaupt keine - darüber, wie eine Person, die etwas Falsches getan hat, sühnen, wiedergutmachen und eine gewisse Kontinuität zwischen ihrem Leben/ihrer Identität vor und nach dem Fehler bewahren kann.«
Weiter: »Menschen verletzen sich gegenseitig. Das tun wir. Eisernes Gesetz des Universums. Einziges konstantes Thema in der gesamten Menschheitsgeschichte. ‘Tu einfach nichts Falsches und du wirst keine Probleme haben’ ist kein brauchbarer Ansatz, aber das ist mehr oder weniger das Niveau der moralischen Idiotie, auf dem wir uns befinden.«
Mit anderen Worten: Alle wollen Vergebung, aber niemandem wird vergeben, und niemand weiß, wie man Vergebung auf kultureller Ebene aushandeln kann. [5]
Unverzeihlich sein ist nicht per se schlecht
Gesellschaftlich rücken wir unverzeihlich sein oft in ein sehr negatives Licht. Wir sehen es als eine moralisch minderwertige und unreife Reaktion auf Fehlverhalten, im Vergleich zur Vergebung als »moralisch überlegene« Reaktion.
Unumstritten hat Vergebung auch gute Seiten. Das besprechen wir genauer in der Betreutes Fühlen-Folge »Vergeben lernen«.
Ein potenzielles Problem bei der Auslegung vom Unverzeihlich sein als unmoralisch oder ungesund besteht darin, dass sich Opfer durch gesellschaftliche Erwartungen, Familie oder Freunde unter Druck gesetzt fühlen könnten, ihren Täter:innen in Situationen zu vergeben, in denen es in Wirklichkeit unangemessen oder ungesund wäre, dies zu tun.
Das schreiben Madelynn R. D. Stackhouse von der University of North Carolina at Greensboro und Kolleginnen, die 2017 einen Fragebogen zum Unverzeihlich sein entwickelt haben. [6] Dieser besteht laut den Autorinnen aus drei Komponenten: emotional-grüblerische Unverzeihlichkeit (emotional-ruminative unforgiveness), Täter-Rekonstruktion (offender reconstrual) und kognitiv-bewertende Unverzeihlichkeit (cognitive-evaluative unforgiveness).
Zweite Chancen in Beziehungen – Eine gute Idee?
Viele denken wahrscheinlich, wenn es um zweite Chancen geht, an romantische Beziehungen.
Sollte man einem/r betrügenden Partner:in eine zweite Chance geben? Wirft man einen Blick in die Wissenschaft wird deutlich, viele sind Wiederholungstäter:innen. Einer Studie aus dem Jahr 2016 an der Universität Coimbra von Alexandra Martins und Kolleg:innen zufolge gingen 30 Prozent in ihrer aktuellen Beziehung fremd, wenn sie in der Vergangenheit bereits untreu wurden. Im Vergleich zu 13 Prozent, die in keiner früheren Beziehung fremdgegangen waren. [7] Eine andere Studie fand ähnliches heraus. [8] Heißt aber nicht, dass Betrüger:innen sich nicht ändern können. Ganze 70 Prozent derjenigen, die in der Vergangenheit fremdgegangen sind, sind in ihren aktuellen Beziehungen treu (zumindest haben sie das angegeben).
Weitere Untersuchungen zeigen: Es ist riskant, wieder mit einem/r Ex zusammenzukommen – aber es könnte sich auch lohnen. [9] Eine Studie aus dem Jahr 2013 ergab, dass sich mehr als ein Drittel der Paare, die zusammenleben und ein Fünftel der verheirateten Paare schon einmal getrennt haben. [10] Das heißt, es kommt durchaus häufig vor, dass einmal Schluss machen nicht das Aus für immer bedeutet. Solche »Zyklen« können sich aber auch negativ auf die Beziehung auswirken. [11]
Entscheidungshilfen & Tipps: Wem soll man eine zweite Chance geben und wem nicht?
Niemand hat das Recht auf eine zweite Chance
»Kein Mensch hat ein Recht darauf, dass ihm verziehen wird und niemand ist verpflichtet, erlittenes Unrecht zu verzeihen.« Das sagt Susanne Boshammer, Philosophieprofessorin an der Universität Osnabrück und Autorin von »Die zweite Chance. Warum wir (nicht alles) verzeihen sollten« gegenüber Redaktionsnetzwerk Deutschland.
Es ist immer ok, keine zweite Chance zu geben. Denn es gehe dabei auch um Selbstschutz und Selbstachtung, sagt Boshammer.
Ist die Entschuldigung echt?
Das ist ein ganz kritischer Punkt. Gerade, weil immer mehr sog. »Fauxpologies« verbreitet werden.
Der amerikanische Psychiater Aaron Lazare erklärt in seinem Buch »On Apology«, dass eine Entschuldigung nur dann wirksam sein kann, wenn sie ehrlich ist. Sie sollte außerdem vier wesentliche Elemente enthalten:
Die Anerkennung des Vergehens, eine Erklärung des Geschehens (und hier, so erklärt der Psychiater, ist es am wichtigsten, zu erklären, ohne zu entschuldigen), einen Ausdruck des Bedauerns und schließlich ein Angebot zur Wiedergutmachung, etwa das Versprechen, denselben Fehler in Zukunft nicht mehr zu begehen.
Tut es der Person wirklich leid? Hat sie die Verantwortung für ihr Handeln übernommen?
Nächster Schritt: Ist der/die Täter:in wirklich reumütig? Das ist manchmal schwer einzuschätzen, da sehr manipulative Menschen mit falscher Reue und Tränen um Verzeihung bitten und so an unseren Mitleidsfäden ziehen. Schau genau hin: Bereut der/die Täter:in den Schmerz, den er/sie dir zugefügt hat, oder geht es ihm/ihr in Wirklichkeit nur um sich selbst und das, was er/sie verloren hat. [12]
Ist die Verhaltensweise ein Muster? Dann eher keine zweite Chance
Denke daran, dass vergangenes Verhalten zukünftiges vorhersagen kann. Das trifft natürlich nicht immer und auf alle zu, aber Wahrheit steckt schon drin (vgl. die Studien zum Fremdgehen).
Frage dich also, ob es sich bei dem zu verzeihenden Verhalten um einen Ausreißer handelt, um die Fortsetzung immer schlechterer Handlungen oder um ein zu erwartendes Muster. [12]
Setze Ziele und Grenzen fest, bevor du jemandem eine zweite Chance gibst
Mach deine Bedingungen klar, bevor du jemandem eine zweite Chance gibst.
[1] Brose, L. A., Rye, M. S., Lutz-Zois, C., & Ross, S. R. (2005). Forgiveness and personality traits. Personality and individual differences, 39(1), 35-46.
Wohl, M. J. A., & McGrath, A. L. (2007). The perception of time heals all wounds: Temporal
distance affects willingness to forgive following an interpersonal transgression.
Personality and Social Psychology Bulletin, 33(7), 1023–1035.
Fincham, F. D., Jackson, H., & Beach, S. R. H. (2005). Transgression severity and forgiveness: Different moderators for objective and subjective severity. Journal of Social and Clinical Psychology, 24(6), 860–875.
Hanke, K., & Vauclair, C. M. (2016). Investigating the human value “forgiveness” across 30 countries: A cross-cultural meta-analytical approach. Cross-Cultural Research, 50(3), 215-230.
[2] Forbes, R. C., & Stellar, J. E. (2022). When the ones we love misbehave: Exploring moral processes within intimate bonds. Journal of Personality and Social Psychology, 122(1), 16.
[3] Wenzel, M., Harous, C., Cibich, M., & Woodyatt, L. (2023). Does victims' forgiveness help offenders to forgive themselves? The role meta-perceptions of value consensus. Journal of Experimental Social Psychology, 105, 104433.
Marwick, A. E. (2021). Morally motivated networked harassment as normative reinforcement. Social Media+ Society, 7(2), 20563051211021378.
[4] Sawaoka, T., & Monin, B. (2020). Outraged but sympathetic: Ambivalent emotions limit the influence of viral outrage. Social Psychological and Personality Science, 11(4), 499-512.
[5] Romano, A. (2022). Everyone wants forgiveness, but no one is being forgiven. Vox.com.
[6] Stackhouse, M. R., Jones Ross, R. W., & Boon, S. D. (2018). Unforgiveness: Refining theory and measurement of an understudied construct. British Journal of Social Psychology, 57(1), 130-153.
[7] Martins, A., Pereira, M., Andrade, R., Dattilio, F. M., Narciso, I., & Canavarro, M. C. (2016). Infidelity in dating relationships: Gender-specific correlates of face-to-face and online extradyadic involvement. Archives of Sexual Behavior, 45, 193-205.
[8] Knopp, K., Scott, S., Ritchie, L., Rhoades, G. K., Markman, H. J., & Stanley, S. M. (2017). Once a cheater, always a cheater? Serial infidelity across subsequent relationships. Archives of sexual behavior, 46, 2301-2311.
[9] Hill, F. (2022). What Second-Chance Couples Know About Love. The Atlantic.
[10] Vennum, A., Lindstrom, R., Monk, J. K., & Adams, R. (2014). “It’s complicated” The continuity and correlates of cycling in cohabiting and marital relationships. Journal of Social and Personal Relationships, 31(3), 410-430.
[11] Monk, J. K., Ogolsky, B. G., & Maniotes, C. (2022). On–Off Relationship Instability and Distress Over Time in Same‐and Different‐Sex Relationships. Family Relations, 71(2), 630-643.
[12] Mauro, M. (2010). The Art of Second Chances: On Forgiving, Forgetting and Letting Go. Psychology Today.