Unlösbare Konflikte lösen
Alles zur Betreutes Fühlen-Folge
Nicht nur auf Social Media treffen Meinungen aufeinander, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Auch in Familien, Freundschaften oder im Job sind wir oft überrascht, welche krassen Überzeugungen uns in Diskussionen begegnen. Da ruhig zu bleiben fällt verdammt schwer. Oft haben wir auch gar keinen Bock mehr auf solche Gespräche. Persuasion Fatigue nennt das die Psychologie – und liefert gleich mit, wie wir uns trotz »Überzeugungsmüdigkeit« annähern können, statt die Gräben immer tiefer zu ziehen.
Das Phänomen der Persuasion Fatigue
Wenn wir ständig versuchen Menschen von unseren Meinungen zu überzeugen, können wir müde davon werden. Das ist die sogenannte Persuasion Fatigue (= Überzeugungsmüdigkeit). Es handelt sich um eine besondere Form der sozialen Frustration, die unser Urteilsvermögen trübt und unseren Beziehungen schaden kann. Wenn wir frustriert sind, neigen wir dazu, unseren Gesprächspartner:innen die Schuld zu geben, statt unsere eigenen Grenzen anzuerkennen.
Erste – noch unveröffentlichte – Ergebnisse deuten darauf hin, dass Überzeugungsmüdigkeit weit verbreitet ist. Von 600 Personen in den USA, die an einer kürzlich durchgeführten Studie teilnahmen, gaben 98 Prozent an, diese Müdigkeit erlebt zu haben, ausgelöst durch Diskussionen über Politik, Religion und Gesundheit [1].
Warum ist es ein Problem, wenn du solche Diskussionen satt hast (also hohe Persuasion Fatigue hast)?
Persuasion Fatigue hat hohe persönliche Folgen: In den bisherigen Untersuchungen haben 28 Prozent der Teilnehmenden Überzeugungsmüdigkeit als Grund dafür angegeben, dass sie jemanden aus ihrem Leben verbannt haben. Überzeugungsmüdigkeit ist ein Vorbote von Trennungen. Obwohl viele dieser Trennungen zweifellos gerechtfertigt waren, hätten manche mit ein wenig mehr Selbstreflexion vermieden werden können [1].
Eine besondere Form von Konflikt – Attitude Conflicts
Konflikte, in denen Persuasion Fatigue entsteht, sind häufig keine Konflikte über allgemeine Meinungsverschiedenheiten (z.B. wer bringt wie oft den Müll raus), sondern Meinungsverschiedenheiten über »große« Themen. Das nennen wir Attitude Conflicts (= Einstellungskonflikte).
Definiert werden solche Konflikte als grundsätzliche Intoleranz gegenüber den Einstellungen und Überzeugungen einer anderen Person. Außerdem werden negative Rückschlüsse auf die Moral, Intelligenz und sogar das grundlegende Verständnis der Realität von anderen gestellt [2].
In welchen Situationen entstehen Attitude Conflicts?
Wenn wir drei Dinge annehmen:
1) uns erscheint das Ergebnis der Diskussion wichtig,
2) wir fühlen uns abhängig von unseren Konfliktpartner:innen und
3) wir denken, dass alle Argumente für unsere Sicht sprechen [3].
Daher entstehen Attitude Conflicts gerne in Diskussionen mit der Familie. Die Themen sind meistens wichtig, wir sind voneinander abhängig und es gibt aus unserer Sicht häufig nur eine richtige Meinung zu dem Thema.
Warum ist es so schwer, empfänglich für andere Sichtweisen zu sein?
Laut Julia Minson, Professorin für Public Policy an der Harvard Kennedy School of Government, geht es hier vor allem um unsere »Receptiveness for Opposing Views«, also wie offen wir uns gegensätzlichen Meinungen sind.
Diese Offenheit speist sich durch unterschiedliche Annahmen. Eine geringe Offenheit gegenüber anderen Meinungen folgt aus diesen dreien:
Annahme 1: Ich möchte mehr erfahren, du willst mich nur überzeugen
Das Team von Prof. Julia Minson hat herausgefunden, dass Menschen in Konfliktgesprächen unterschiedliche Ziele für sich und den/die Konfliktpartner:in annehmen. Je weniger sie annehmen, dass der/die andere von ihnen lernen will, desto weniger schätzen sie die andere Person [4].
Annahme 2: Wen das (nicht) berührt, der muss blöd sein
Professor Peter Ditto von der University of California (Irvine) diskutiert in einem Übersichtsartikel, dass »Empathy Gaps« (= Empathielücken) dafür verantwortlich sind, dass wir andere für »blöd« oder »schlecht« halten, wenn sie nicht dieselben moralischen Überzeugungen wie wir haben [5].
Annahme 3: Meine Gruppe handelt aus Liebe, deine, weil ihr uns hasst
Professor Adam Waytz von der Northwestern University erkannte in einer Reihe von Studien, dass Menschen der eigenen Gruppe bessere emotionale Motive als der anderen Gruppe zuschreiben. Diese »Motive Attribution Asymmetry« hängt wiederum damit zusammen, dass man keine Lust auf weitere Verhandlungen mit der anderen Gruppe oder sogar eine Kompromissfindung hat [6].
Wie können wir voneinander lernen anstatt überzeugen zu wollen
Natürlich sind diese Tipps nur dafür da, wenn in einer Situation durch unterschiedliche Meinungen keine Gefahr für dich besteht. Denn Sicherheit steht an erster Stelle.
Der Grundgedanke: Die Lösung ist NICHT Strategien zu Rate zu ziehen, wie man andere jetzt doch überzeugen kann, sondern wir wollen Tipps dazu geben, wie man trotz der Differenzen in Kontakt bleiben kann (und vielleicht sogar die Meinung der anderen in Betracht ziehen kann).
Frage dich ehrlich, was dein Ziel ist – Willst du wirklich verstehen oder nur überzeugen?
Ein Tipp von Julia Minson: Wenn du deine Fragen im Voraus aufschreiben würdest, könntest du dann im Grunde das gesamte Gespräch nur aus deiner Perspektive wiedergeben? Wenn die Antwort auf diese Frage »Ja« lautet, dann deshalb, weil es nicht nötig war, etwas von der anderen Seite zu hören [7].
Halte Auswirkungen und Absicht auseinander
Wir erzählen uns Geschichten, wenn wir dem Verhalten eines anderen eine Bedeutung beimessen, ohne zu prüfen, ob unsere Schlussfolgerungen richtig sind. Oft spielen diese Geschichten in unserem Kopf leise und wiederholt ab [8].
Um zu verhindern, dass Du vorschnell Vermutungen über die Absichten Anderer anstellst, stell dir drei Fragen:
- Handlungen: Was hat die andere Person tatsächlich gesagt oder getan?
- Auswirkung: Welche Auswirkungen hat das auf mich?
- Absicht: Welche Annahmen mache ich aufgrund dieser Auswirkungen über die Absichten der anderen Person?
Kenne die Illusion der Erklärungstiefe (Illusion of Explanatory Depth)
Illusion der Erklärungstiefe = die allgemeine Erkenntnis, die wir haben, wenn wir beginnen, ein Konzept zu erklären. Wir realisieren, dass wir es tatsächlich viel weniger verstehen, als wir dachten. Versuch daher, deine Gedanken zuerst laut dir selbst zu erzählen oder jemand anderem zu erklären, bevor du dir eine feste Meinung dazu bildest [9].
Frag nach Quellen – und lese sie auch wirklich
Wenn es jemanden gab, mit dem du eine klare Meinungsverschiedenheit hattest, bitte diese Person, ein Buch oder eine Lektüre zu nennen, die ihre Sichtweise beeinflusst hat. Nimm dir die Zeit, das Empfohlene zu lesen und teile der Person anschließend mindestens eine Erkenntnis mit. Die Chancen stehen gut, dass sie sich geschmeichelt fühlt und sich vielleicht sogar erkenntlich zeigt. Es ist unwahrscheinlich, dass diese Lektüre deine Meinung ändert, aber sie wird dich klüger und geschickter machen, wenn du das nächste Mal mit dieser Person oder mit jemandem, der diese Überzeugungen vertritt, zu tun hast [10].
Geh auf die Gefühlsebene
Für eine starke emotionale Bindung ist es wichtig, die Gemeinsamkeiten zu verstehen, die wir haben. Das Anerkennen von Ängsten zeigt Empathie und erinnert uns an unsere gemeinsamen menschlichen Erfahrungen. Manchmal ist die Angst vielleicht die größte Gemeinsamkeit, die wir haben. Übergehe dieses wichtige und sehr reale Element nicht einfach. Wenn ein Gespräch im Schlamm stecken bleibt und nicht vorankommt, kann das Ansprechen von Ängsten die Dinge in eine fruchtbarere Richtung lenken [11].
Sag Danke für’s Widersprechen
Sag »Danke«, wenn sich jemand die Zeit nimmt, anderer Meinung zu sein. Es mag nicht so aussehen, aber Meinungsverschiedenheiten sind wirklich ein Geschenk. Wenn jemand anderer Meinung ist als wir, musste er/sie sich nicht die kostbare Zeit nehmen, um mit uns zu sprechen. Er/sie schuldet uns nicht diese Aufmerksamkeit oder Höflichkeit [11].
Exit-Strategie: Brich das Gespräch (für eine Weile) ab – und gib auch der anderen Person diese Option
Wenn ein schwieriges Thema auftaucht und du nicht in der Lage bist, ein gemeinsames Ziel zu finden, ist es am besten, das Gespräch umzuleiten. Versuche, etwas zu sagen wie: »Ich bin mir nicht sicher, ob ich jetzt Lust auf dieses Gespräch habe. Vielleicht können wir ein andermal darauf zurückkommen?« Denke im Laufe des Gesprächs daran, dass du immer die Möglichkeit hast, das Gespräch zu beenden. Das gleiche gilt für dein Gegenüber und dann solltest du auf keinen Fall drängen [10].
Redaktion: Karen Bartholomeyczik, M.Sc.-Psychologin; Julia Weinstabl, M.Sc.-Psychologin
Produktion: Murmel Productions
[1] Ballantyne, N., Celniker, J. & Ditto, P. ‘Persuasion Fatigue’ Is a Unique Form of Social Frustration. Scientific American.
[2] Minson, J. A., & Chen, F. S. (2022). Receptiveness to opposing views: conceptualization and integrative review. Personality and Social Psychology Review, 26(2), 93-111.
[3] Minson, J. A., & Dorison, C. A. (2022). Toward a psychology of attitude conflict. Current opinion in psychology, 43, 182-188.
[4] Collins, H. K., Dorison, C. A., Gino, F., & Minson, J. A. (2022). Underestimating Counterparts’ Learning Goals Impairs Conflictual Conversations. Psychological Science, 33(10), 1732-1752.
[5] Ditto, P. H., & Koleva, S. P. (2011). Moral empathy gaps and the American culture war. Emotion Review, 3(3), 331-332.
[6] Waytz, A., Young, L. L., & Ginges, J. (2014). Motive attribution asymmetry for love vs. hate drives intractable conflict. Proceedings of the National Academy of Sciences, 111(44), 15687-15692.
[7] Decision Lab Podcast. Julia Minson on the Better Way to Argue.
[8] Stone, D., Patton, B., & Heen, S. (2010). Difficult conversations: How to discuss what matters most. Penguin. Zusammenfassung.
[9] Fernbach, P. M., Rogers, T., Fox, C. R., & Sloman, S. A. (2013). Political extremism is supported by an illusion of understanding. Psychological science, 24(6), 939-946.
[10] Mehl, C., & Haidt, J. (2021). How to Have Fun With That Relative Whose Opinions You Can't Stand This Thanksgiving. Time.
[11] Martin, S. M. (2021). 11 Tips for Talking to Someone You Disagree With. Psychology Today.