Wie Testosteron dein Leben bestimmt
Alles zur Betreutes Fühlen-Folge
Testosteron steht für Männlichkeit. Wir verbinden dieses Hormon mit sexueller Lust, Aggression und Impulsivität. Wenn’s so wäre, wär’s so schön einfach. Aber wir machen das »männliche Hormon« zu etwas, das es nicht ist, sagt unser Gast Prof. Dr. Oliver Schultheiss. Mit dem Psychologen sprechen wir über das Dominanzverhalten von Affen, es geht um Fingerlängen als Maß für Testosteron, den Hormonzyklus des Mannes und die zentrale Frage: Welchen Einfluss hat das vermeintliche Aggressionshormon wirklich auf uns?
Was ist Testosteron?
Testosteron ist ein Steroidhormon aus der Gruppe der Androgene. Männer sowie Frauen haben dieses Hormon. Männer bilden es primär in den Hoden, Frauen in den Eierstöcken. Der Testosteronspiegel im Blut ist bei Männern um ein Vielfaches höher als bei Frauen. [1]
In der Pubertät steigt der Testosteronspiegel. Es führt zur Vergrößerung von Hoden und Penis, zum Stimmbruch und Bartwuchs. Außerdem bauen Männer durch das Hormon schneller Muskulatur auf als Frauen. Testosteron wird auch zur Bildung und Reifung von Samenzellen benötigt. [2]
Neben geschlechtsbezogenen Aufgaben, fördert Testosteron im Körper die Bildung von roten Blutkörperchen und deren Eisenaufnahme, unterstützt den Knochenaufbau und ist für einen gesunden Hormonzyklus der Frau zuständig. [2]
Aber nicht nur Frauen haben einen Hormonzyklus. Auch Männer unterliegen hormonellen Schwankungen. Dieser geht über 24 Stunden und ist vom Schlafrhythmus abhängig. [3]
Der Testosteronspiegel nimmt ab dem 40. Lebensjahr zunehmend ab. Dieser natürliche Abfall kann als eine Art natürliche Wechseljahre bezeichnet werden. Ist der Testosteronwert zu niedrig, kann das gesundheitliche Beschwerden hervorrufen. [4]
Wie beeinflusst Testosteron unser Verhalten?
Testosteron wurde 1935 benannt von Ernst Laqueur, als er das Hormon aus Stierhoden isolierte. [5] Seither wurde es als Sexualhormon betitelt, das vor allem den biologischen Unterschied zwischen Männern und Frauen erklären sollte. [6]
Gerne glauben wir, dass Testosteron für »typisch männliche Eigenschaften«, wie Aggression und Durchsetzungsvermögen verantwortlich ist.
Viele Studien haben die Wechselwirkung zwischen Testosteron und dem Verhalten von Männern untersucht. Viele Untersuchungen finden, dass das Hormon vor allem mit dem Sexualtrieb zusammenhängt. [4] Wobei hier wiederum einige Studien darauf hindeuten, dass dieser Zusammenhang nicht so einfach ist, wie wir gerne hätten. [7]
Ähnlich viele Widersprüche gibt es in anderen Studien, die den Zusammenhang von Testosteron und Verhalten unter die Lupe nehmen. Ein Forschender auf diesem Gebiet ist Leons und Atzes Gast Dr. Oliver Schultheiss. Der Diplompsychologe und Professor an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg forscht u.a. seit Jahren zum Einfluss von Testosteron auf die Psyche.
Zum Beispiel hat er in seinen Untersuchungen immer wieder das 2D:4D- Fingerverhältnis genutzt. Ein interessanter Marker, der die Längenverhältnisse von Zeige- und Ringfinger hernimmt, um die pränatale Testosteron-Exposition zu messen. [8]
Ein klassischer Widerspruch ist, dass Testosteron sowohl für Stärke und Mut verantwortlich ist, aber auch für Egomanie und Gewalttätigkeit. [9] Immer deutlicher wird, dass das vermeintliche Sexualhormon im Verhalten ein »soziales Hormon« ist. Es scheint zu helfen, das Verhalten so an die Situation anzupassen, dass es dem sozialen Status dient. [10]
Zu diesen Befunden passt, die Hypthese vom amerikanischen Neuroendokrinologen Robert Sapolsky. Er erklärt in seinem Buch »Behave«, dass Testosteron als ein Verhaltens-Verstärker wirkt. Das heißt, Testosteron verstärkt Verhalten, egal welches. Zum Beispiel verschlimmert es Aggressionstendenzen, anstatt Aggression aus dem Nichts zu erzeugen. Diese Ansicht passt zur »Challenge Hypothese« vom Verhaltensendokrinologen John Wingfield. Er und sein Team behaupten, dass Testosteron Aggression nur in herausfordernden Situationen verstärkt. [11]
Im Huberman Lab-Podcast beschreibt Robert Sapolsky es so: »Testosteron macht Systeme, die bereits eingeschaltet sind, noch lauter.« [12]
Auch wichtig ist beim Thema Testosteron und Verhalten, dass oft unklar ist, ob Testosteron die Ursache für das Verhalten ist oder ein bestimmtes Verhalten den Testosteronspiegel steigen lässt – das klassische Henne-Ei-Problem. [13]
Hilft Testosteron bei Depressionen?
Spannend ist, dass eine Testosteron-Behandlung offenbar helfen kann, depressive Symptome bei Männern zu reduzieren. Das fand ein internationales Forscherteam unter Leitung des Psychologen Dr. Andreas Walther von der TU Dresden heraus. [14] Doch es benötigt noch weitere hochqualitative Untersuchungen, um diese Befunde zu untermauern.
Unsere falsche Sicht auf Testosteron
Cordelia Fine, Professorin für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie an der Universität von Melbourne, schreibt in ihrem Buch Testosteron »Testosterone Rex«, dass wir Testosteron als Ausrede hernehmen, um unangebrachtes, männliches Verhalten zu entschuldigen, z.B. Aggression. [5] Ein Hormon allein verursacht noch lange kein Verhalten.
Außerdem fördert die Idee von Testosteron als das Hormon des Mannes, die Vorstellung von einem »weiblichen« und »männlichen« Gehirn. [15] Eine Vorstellung, die mittlerweile überholt ist, sagt die Forschung.
Testosteron ist sehr komplex. Und dabei hätten wir es so gerne einfach, schreibt Psychologie Heute. [16] Damit würden wir Testosteron aber weiterhin als ein Hormon darstellen, dessen Wirkung sich 1:1 ins Verhalten übersetzen lässt. Doch wir müssen den genauen Einfluss dieses Hormons noch besser erforschen, um finale Aussagen machen zu können.
[1] Testosteron. Dorsch – Lexikon der Psychologie.
[2] Die Funktionen von Testosteron. Hormonspezialisten.
[3] Axelsson, J., Ingre, M., Åkerstedt, T., & Holmbäck, U. (2005). Effects of acutely displaced sleep on testosterone. The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism, 90(8), 4530-4535.
[4] Bioly, S. (2022). Diese sechs Hormone solltest du kennen. Quarks.
Schubert, M. (2014). Riskanter Jungbrunnen – Geschlechtshormon Testosteron. Deutschlandfunk.
[5] Fine, C. (2017). Testosterone Rex: Myths of sex, science, and society. WW Norton & Company.
[6] Gutmann, M. (2020). Testosterone is widely, and sometimes wildly, misunderstood. Aeon.
[7] Travison, T. G., Morley, J. E., Araujo, A. B., O’Donnell, A. B., & McKinlay, J. B. (2006). The relationship between libido and testosterone levels in aging men. The Journal of Clinical Endocrinology & Metabolism, 91(7), 2509-2513.
van Anders, S. M. (2012). Testosterone and sexual desire in healthy women and men. Archives of Sexual Behavior, 41(6), 1471-1484.
[8] Second-to-Fourth Digit Ratio. Science Direct.
[9] Berndt, C. (2022). Männlichkeit im Blut. Süddeutsche Zeitung.
[10] Dreher, J. C., Dunne, S., Pazderska, A., Frodl, T., Nolan, J. J., & O’Doherty, J. P. (2016). Testosterone causes both prosocial and antisocial status-enhancing behaviors in human males. Proceedings of the National Academy of Sciences, 113(41), 11633-11638.
[11] Sapolsky, R. M. (2017). Behave: The biology of humans at our best and worst. Penguin.
[12] Dr. Robert Sapolsky: Science of Stress, Testosterone & Free Will. Huberman Lab.
[13] Bernard, E. (2021). Testosteron beeinflusst Erfolg weniger als gedacht. Bild der Wissenschaft.
[14] Testosteron kann Männern mit Depression helfen. (2018). TU Dresden.
Walther, A., Breidenstein, J., & Miller, R. (2019). Association of testosterone treatment with alleviation of depressive symptoms in men: a systematic review and meta-analysis. JAMA psychiatry, 76(1), 31-40.
[15] Ditum, S. (2017). Testosterone Rex by Cordelia Fine review – the question of men’s and women’s brains. The Guardian.
[16] Jerger, I. (2021). Mythos Testosteron. Psychologie Heute.